15

 

Tess überprüfte noch einmal die Summe auf dem Monitor ihres Computers, um sicherzugehen, dass der Befrag auch korrekt war, bevor sie per Mausklick die Überweisung veranlasste. Die angemahnten Rechnungen der Klinik waren jetzt bezahlt. Aber dafür war ihr Sparkonto um mehr als tausend Dollar geschrumpft. Und nächsten Monat würde es neue Rechnungen geben.

„Du, Tess?“ Nora erschien in der offenen Tür und klopfte zögernd an den Türrahmen. „Entschuldige die Störung, aber es ist schon fast sechs und ich muss los, mich auf die Prüfung morgen vorbereiten. Willst du, dass ich abschließe?“

„In Ordnung“, sagte Tess und rieb sich die Schläfen, wo sie inzwischen vor lauter Stress einen unangenehmen Druck verspürte. „Danke, Nora. Schönen Abend.“

Einen langen Augenblick sah Nora sie an und dann die Rechnungen, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten. „Alles in Ordnung?“

„Ja.“ Tess versuchte ein beruhigendes Lächeln. „Ja, klar, alles in Ordnung.“

„Ich habe die Benachrichtigung des Vermieters gesehen. Im neuen Jahr wird die Miete erhöht, nicht?“

Tess nickte. „Aber nur um acht Prozent.“

Es war eigentlich nicht viel, aber sie konnte sich die Miete der Klinik so schon kaum leisten. Die Mieterhöhung würde ihr finanziell den Rest geben -  es sei denn, sie erhöhte ihre Preise.

Und wenn sie das tat, war sie vermutlich die Hälfte ihrer Kundschaft los. Womit sie wieder am Ausgangspunkt angekommen war. Sie wusste, die einzig sinnvolle Alternative war, die Klinik zu schließen, ihre Zelte abzubrechen und etwas anderes anzufangen.

Vor dieser Möglichkeit hatte Tess keine Angst; sie war es gewohnt umherzuziehen. Manchmal fragte sie sich, ob es ihr nicht leichterfiel, neu anzufangen, als zu versuchen, sich irgendwo wirklich einzuleben. An einem Ort, wo sie bleiben konnte. Den suchte sie immer noch. Vielleicht würde sie ihn nie finden.

„Hör mal, Tess, ich … ich wollte mit dir über was reden.

Meine Kurse werden dieses Semester ziemlich arbeitsintensiv, ich brauche definitiv mehr Zeit zum Lernen.“ Nora zögerte und hob eine Schulter. „Du weißt, wie gern ich hier bei dir arbeite, aber ich muss einfach meine Stunden etwas reduzieren.“

Tess nickte, sie konnte es verstehen. „Gut.“

„Weißt du, zwischen Klinik und College hab ich jetzt kaum noch Zeit für irgendwas anderes. Mein Vater heiratet in ein paar Wochen ein zweites Mal, also muss ich mir auch noch überlegen, ob ich dort ausziehe. Und meine Mom möchte sowieso, dass ich nach meinem Abschluss im Frühling zu ihr nach Kalifornien zurückkomme …“

„Ist schon gut. Wirklich. Ich verstehe dich“, sagte Tess, irgendwie ein wenig erleichtert.

Sie hatte Nora in einige Aspekte der finanziellen Krise ihrer Klinik eingeweiht, und während Nora darauf bestanden hatte, die Situation gemeinsam durchzustehen, fühlte Tess sich immer noch verantwortlich. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie die Klinik eigentlich eher für ihre Patienten und für Nora über Wasser hielt als für sich selbst. Sie machte ihren Job gut -  und das wusste sie auch - , aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass dieses neue Leben, das sie sich hier aufgebaut hatte, nur eine andere Form des Davonlaufens, des Sich-Versteckens war. Vor ihrer Vergangenheit, ja bestimmt, aber auch vor dem Hier und Jetzt. Vor etwas, das sie zu sehr ängstigte, um es genauer zu analysieren.

Immer läufst du davon, Tess.

Dantes Worte von gestern Abend klangen ihr immer noch im Ohr. Sie hatte darüber nachgedacht und wusste, dass seine Beobachtung zutraf. Genau wie er hatte sie manchmal das Gefühl, dass sie, wenn sie nur in Bewegung blieb, immer weiter lief, vielleicht -  wirklich nur vielleicht -  überleben konnte. Aber es war nicht der Tod, dem sie davonlaufen musste. Davor, dass sie einmal sterben würde, hatte sie keine Angst. Ihr Dämon war immer an ihrer Seite.

In ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie selbst das war, wovor sie davonlief.

Tess strich einen Papierstapel auf ihrem Schreibtisch glatt und riss sich zusammen, um das Gespräch wieder aufnehmen zu können. „Ab wann hattest du denn gedacht, weniger Stunden zu machen?“

„So bald wie möglich, sobald du mich entbehren kannst. Es macht mich sowieso ganz krank, dass du mich von deinen privaten Ersparnissen bezahlst.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, sagte Tess und wurde vom fröhlichen Bimmeln der Türglocke am Vordereingang unterbrochen.

Nora sah über die Schulter. „Das muss der Kurierdienst mit unserer Materialbestellung sein. Die nehme ich noch schnell entgegen, bevor ich gehe.“

Sie spurtete davon. Tess hörte murmelnde Stimmen im Empfangsbereich. Dann war Nora wieder da, mit verdächtig geröteten Wangen.

„Das ist definitiv nicht der Kurierdienst“, sagte sie bemüht leise, als wollte sie nicht, dass man draußen ihre Worte hören konnte. „Du, das ist ein absoluter Gott.“

Tess lachte. „Ein was?“

„Nimmst du heute Abend noch Laufkundschaft? Da ist ein absolut wahnsinnig gut aussehender Typ mit einem jämmerlichen kleinen Köter.“

„Ist es ein Notfall?“

Nora zuckte die Schultern. „Ich glaube nicht. Keine sichtbaren Verletzungen, kein Blut, aber der Typ ist hartnäckig. Er hat nach dir gefragt. Und, hab ich’s schon erwähnt? Er sieht einfach zum Anbeißen aus.“

„Du hast es erwähnt“, sagte Tess, stand von ihrem Tisch auf und nahm ihren weißen Laborkittel vom Haken. Unter ihrem Ohr fing es zu prickeln an. Es war ein seltsames Gefühl, so wie sie es bei der Ausstellung im Museum gespürt hatte, und dann wieder gestern Abend, als sie neben Dante im Café stand. „Bitte sag ihm, ich komme gleich.“

„Aber gern doch.“ Nora klemmte sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr, strich ihr tief ausgeschnittenes Oberteil glatt und trabte davon.

Das ist er. Er ist da.  Tess wusste, dass es Dante war, noch bevor sie seine tiefe Stimme im Vorraum hörte. Sie ertappte sich dabei, dass sie in ihre vorgehaltene Hand lächelte. Ein wilder Strom der Aufregung durchströmte sie beim Gedanken, dass er gekommen war, um sie zu sehen. Und das, nachdem sie ihn gestern Abend im Park auf so peinliche Art und Weise hatte stehen lassen.

O Gott. Dieser Hormonflash konnte einem ja Sorgen machen. Sie war eigentlich nicht der Typ, der wegen eines Mannes zu sabbern anfing, aber Dante löste Gefühle in ihr aus, die sie nie zuvor gespürt hatte.

„Reiß dich zusammen“, flüsterte sie sich zu, während sie aus ihrem Büro auf den Flur hinausging, der zum Empfangsbereich führte.

Dante stand am hohen Empfangstresen, ein kleines Bündel in den Armen. Nora hatte sich über den Tresen gelehnt, um den kleinen Hund zu streicheln, sie machte gurrende Geräusche und gab Dante einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt. Tess konnte Nora nicht verübeln, dass sie mit Dante flirtete. Das war einfach seine Wirkung auf Frauen. Nicht einmal Tess war gegen seine dunkle Anziehungskraft immun.

Seine Augen waren seit der Sekunde, in der sie eingetreten war, fest auf sie geheftet. Tess hatte mit dem Gedanken gespielt, kühl und unbeteiligt zu wirken oder es zumindest zu versuchen

-  vermutlich versagte sie kläglich. Sie konnte einfach nicht anders als ihn anstrahlen, und ihre Finger zitterten leicht, als sie die Hand an ihren Hals legte, dort seitlich, wo das seltsame Prickeln am stärksten war.

„Das muss Harvard sein“, sagte sie und sah sich den recht ausgezehrten Terriermischling in Dantes Armen an. „Als ich sagte, dass ich ihn gerne mal kennenlernen würde, hätte ich nicht erwartet, ihn schon so bald zu treffen.“

Dante runzelte die Stirn. „Kommen wir ungelegen?“

„Nein, überhaupt nicht. Kein Problem. Ich bin nur … überrascht, das ist alles. Du steckst eben voller Überraschungen.“

„Ihr beiden kennt euch?“ Nora starrte Tess mit offenem Mund an, als wollte sie ihr High Five geben.

„Wir, ähm, wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt“, stammelte Tess. „Auf der Ausstellung im Museum. Gestern Abend sind wir uns zufällig im North End über den Weg gelaufen.“

„Ich habe mich daneben benommen“, sagte Dante und sah sie an, als wären sie die einzigen Personen im Raum. „Ich wollte dich gestern Abend nicht bedrängen, Tess.“

Sie wischte seine Besorgnis mit einem Schulterzucken fort.

Am liebsten hätte sie die ganze Sache einfach vergessen. „Es war nichts. Ich war nicht wirklich sauer. Du hast nichts Schlimmes gemacht. Ich sollte mich bei dir entschuldigen, weil ich einfach so davongelaufen bin.“

Noras Blick flog zwischen den beiden hin und her, als ob die Spannung, die Tess in Dantes Nähe spürte, sich auch auf sie übertrug. „Ich schätze, ihr beiden wärt jetzt lieber allein …“

„Nein“, antwortete Tess abrupt, im selben Moment, als Dante ruhig „Ja“, sagte.

Nora zögerte eine Sekunde, dann drehte sie sich um und nahm ihren Mantel und ihre Handtasche von einem Haken hinter dem Schreibtisch. „Dann … sehen wir uns morgen früh, Tess.“

„In Ordnung. Gute Prüfungsvorbereitung.“

Mit dem Rücken zu Dante sah Nora Tess an und formte stumm mit den Lippen die Worte O mein Gott! , als sie sich zum Hinterausgang aufmachte, wo ihr Wagen stand. Wenige Sekunden später erscholl ein tiefes, rumpelndes Motorengeräusch und verklang, als Nora davonfuhr.

Bis jetzt war Tess von Dantes Anwesenheit so abgelenkt gewesen, dass sie kaum bemerkt hatte, in welchem Zustand sich der kleine Hund befand. Nun aber überkam sie heftiges Mitgefühl. Seine stumpfen braunen Augen waren halb geschlossen, und sein schwaches Hecheln war unterlegt mit einem hörbaren Rasseln der Lungen. Schon auf den ersten Blick war klar zu erkennen, dass der kleine Hund dringend medizinisch versorgt werden musste.

„Kann ich ihn mir mal ansehen?“, fragte sie, froh, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten zu können als auf Dante und die Spannung, die zwischen ihnen knisterte. Als er zustimmend nickte, nahm Tess ihr Stethoskop aus der Kitteltasche und hängte es sich um den Hals. „Wann ist Harvard zum letzten Mal von einem Tierarzt untersucht worden?“

Dante zuckte vage die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher.“

Vorsichtig nahm Tess ihm den Hund aus den Armen.

„Komm, wir gehen in den Untersuchungsraum und schauen dort mal genauer nach.“

Dante folgte ihr in wachsamem Schweigen und blieb direkt hinter ihr stehen, als Tess das zitternde Tier auf dem Untersuchungstisch aus rostfreiem Edelstahl niedersetzte. Sie legte das Stethoskop auf seinem kleinen Brustkorb an und lauschte dem hektischen Schlag seines Herzens. Es waren deutliche Nebengeräusche zu hören, und wie sie schon vermutet hatte, war seine Atmung schwer beeinträchtigt. Vorsichtig tastete sie den schmächtigen Brustkorb ab, aus dem die Rippen hervorstanden, und registrierte den Mangel an Dehnbarkeit in seinem flohverseuchten Fell. „Hat Harvard in der letzten Zeit wenig geschlafen? War er lethargisch?“

„Ich weiß nicht.“

Obwohl Dante sich gar nicht bewegt hatte, streiften sich ihre Arme, sein fester, muskulöser Körper lag um sie wie eine warme, schützende Wand. Und er roch so unglaublich gut -  irgendwie würzig und dunkel, was immer es war, es musste ein Vermögen kosten. Tief sog sie seinen Duft ein, dann beugte sie sich hinunter, um das verlauste Ohr des Hundes zu inspizieren. „Hast du Appetitverlust bemerkt oder dass er Futter und Wasser nicht bei sich behalten kann?“

„Nicht direkt.“

Tess hob die Lippen des Terriers an und überprüfte den Zustand seines entzündeten Zahnfleischs. „Kannst du mir sagen, wann Harvard das letzte Mal geimpft wurde?“

„Weiß ich nicht.“

„Weißt du denn irgendetwas über dieses Tier?“ Es klang anklagend, sie konnte es sich nicht verkneifen.

„Ich habe ihn noch nicht lange, Tess“, sagte Dante. „Ich weiß, dass er behandelt werden muss. Denkst du, du kannst ihm helfen?“

Sie runzelte die Stirn. Sie wusste, hier musste viel getan werden. Der Zustand dieses Hundes war beinahe hoffnungslos. „Ich tue, was ich kann, aber versprechen kann ich nichts.“

Tess griff nach einem Kugelschreiber, der hinter ihr auf der Ablage lag, und spielte damit herum. Der Stift fiel neben ihren Füßen zu Boden, und noch bevor sie sich nach ihm bücken konnte, war Dante schon da, fing den Bic-Kugelschreiber mit flinken Fingern im Fall auf und reichte ihn ihr. Als sie ihn aus seiner Hand nahm, fühlte sie seinen Daumen über ihren Handrücken gleiten. Abrupt zog sie den Arm an den Körper.

„Warum mache ich dich so nervös?“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, verkündete vermutlich genau das. „Machst du nicht.“

„Bist du sicher? Du wirkst so … aufgewühlt.“

Das war sie in der Tat. Sie hasste es, vernachlässigte Tiere wie dieses hier zu sehen, das aussah, als hätte es für eine Tierschutzkampagne Modell gestanden. Und auch der Stress wegen allem, was derzeit in ihrem Leben schieflief, machte ihr zu schaffen.

Aber das war nicht alles. Die Unterströmung von all diesen Oberflächlichkeiten war die Unruhe, die sie fühlte, wenn sie auch nur im selben Zimmer war wie dieser Mann. O Gott, wenn sich nur ihre Blicke trafen, durchzuckte sie schon eine sehr grelle, sehr reale Vision von ihnen beiden. Nackt, mit ineinander verschlungenen Gliedern, ihre Körper feucht und glänzend auf einem Bett voller purpurroter Seidenlaken.

Sie konnte spüren, wie seine riesigen Hände sie streichelten, wie sein Mund sich heiß und hungrig an ihren Hals presste. Sie konnte sein Geschlecht fühlen, wie es in sie hinein- und aus ihr herausglitt, während seine Zähne über die sensible Stelle unter ihrem Ohr fuhren, die inzwischen pulsierte wie schwerer Trommelschlag.

Gefangen in seinen rauchigen bernsteinfarbenen Augen sah sie all das vor sich, so deutlich wie eine Erinnerung. Oder wie eine Verheißung zukünftiger Geschehnisse, die nur knapp außer Reichweite vor ihren Augen tanzten …

Mit großer Mühe blinzelte Tess und durchtrennte diese seltsame Verbindung.

„Entschuldige“, hauchte sie und hastete aus dem Raum. Auf einmal war sie ganz durcheinander.

Sie machte die Tür hinter sich zu und ging ein paar schnelle Schritte den Gang hinunter, wo sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnte, die Augen schloss und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihr Brustbein. Jeder einzelne ihrer Knochen schien zu vibrieren, zu summen wie eine Stimmgabel.

Ihre Haut war heiß, Hitze glühte um ihren Hals und in ihren Brüsten und unten zwischen ihren Beinen. Alles in ihr schien in seiner Gegenwart erwacht zu sein, alles an ihr, das weiblich und elementar war, brach mit Urgewalt an die Oberfläche ihres Seins empor und verzehrte sich nach etwas. Verzehrte sich nach ihm.

Lieber Himmel, was war nur los mit ihr?

Sie war am Durchdrehen. Am Ausflippen. Wenn sie noch einigermaßen alle Tassen im Schrank hatte, sollte sie Dante und seinen kranken Hund im Untersuchungsraum lassen und sofort von hier abhauen.

Ja, klar. Das wäre dann auch wirklich professionell. Sehr reif und erwachsen.

Er hatte sie einmal geküsst. Na und? Alles, was er jetzt getan hatte, war, sie mit den Fingerspitzen zu streicheln. Sie  war hier diejenige, die überreagierte. Tess atmete tief ein, dann noch einmal, um ihre hyperaktiven Hormone wieder herunterzufahren. Als sie wieder halbwegs das Gefühl hatte, sich unter Kontrolle zu haben, drehte sie sich um und ging zum Untersuchungsraum zurück, im Kopf eine Reihe lahmer Ausflüchte, warum sie den Drang verspürt hatte davonzulaufen.

„Tut mir leid“, sagte sie, als sie die Türe öffnete. „Ich dachte, ich hätte das Telefon gehört …“

Die klägliche Ausrede blieb ihr im Hals stecken, als sie ihn erblickte. Er saß auf dem Boden, als sei er gerade erst dort zusammengebrochen. Schwer hing sein Kopf herab, von seinen riesigen Handflächen gestützt. Seine Fingerspitzen, die in seinem dichten Haar vergraben waren, schimmerten weiß. Er sah aus, als hätte er entsetzliche Schmerzen, sein Atem ging mühsam und zischend durch die Zähne, die Augen hatte er fest zusammengepresst.

„O mein Gott“, flüsterte sie und trat näher. „Dante, was ist passiert? Was ist los mit dir?“

Er antwortete nicht. Vielleicht konnte er nicht mehr sprechen.

Und obwohl offensichtlich war, dass er schlimme Schmerzen hatte, strahlte Dante eine dunkle, wilde Gefahr aus, so übermächtig, dass sie fast nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Ihn dort in Schmerzen am Boden zu sehen, gab Tess ein plötzliches Gefühl von Déjà-vu, eine ungute Vorahnung, die ihre Wirbelsäule kitzelte. Langsam wich sie zurück, bereit, den Notruf anzurufen und sein Problem -  was immer es war -  von jemand anderem behandeln zu lassen. Aber da rollten sich seine mächtigen Schultern vor Schmerz zu einem festen Ball zusammen. Er stieß ein Stöhnen aus, und der tiefe, schmerzerfüllte Laut war mehr, als sie ertragen konnte.

 

Dante wusste nicht, wie ihm geschah.

Die Todesvision kam blitzschnell und durchbohrte ihn wie eine Explosion gleißenden Tageslichts. Wenigstens war er wach, aber jetzt wurde er bei vollem Bewusstsein in einem Zustand der Lähmung festgehalten, all seine Sinne tobten von der Wucht eines lähmenden, tödlichen Angriffs. Die Vision war noch nie über ihn gekommen, wenn er wach war. Und noch nie war sie von so entsetzlicher, gnadenloser Heftigkeit gewesen.

Vor einer Minute noch hatte er neben Tess gestanden, überwältigt von den erotischen Fantasien darüber, was er mit ihr tun wollte. Und dann plötzlich kam er auf dem Linoleumfußboden des Behandlungsraums zu sich und fühlte, wie er in Rauch und Flammen aufging.

Von allen Seiten leckten Flammen nach ihm und rülpsten fette, schwarze Rauchschwaden. Er konnte sich nicht bewegen.

Er fühlte sich in der Falle, hilflos, hatte Angst.

Der Schmerz war unendlich, genau wie seine Verzweiflung.

Es beschämte ihn, wie tief er beides empfand, wie schwer es für ihn war, vor Qual nicht laut aufzuschreien über etwas, das er nur in seiner Vorstellung durchlebte.

Aber er hielt durch, das war das Einzige, was er tun konnte, wenn die Vision ihn überkam, und er betete, dass sie bald vorüberging.

Er hörte seinen Namen auf Tess’ Lippen, sie fragte ihn, was er brauchte. Aber er konnte nicht antworten. Seine Kehle war ausgedörrt, sein Mund voller Asche. Als sie näher kam, spürte er, wie ehrlich ihre Besorgnis um ihn war und wie genau sie erkannte, in welch schlimmem Zustand er war. Er wollte ihr sagen, dass sie gehen, ihn alleine leiden lassen sollte -  auf die einzige Art, die er kannte.

Aber dann waren plötzlich kühle, sanfte Finger auf seiner Schulter. Er spürte, wie sich über ihm die weiße Ruhe des Schlafes auszubreiten begann wie eine schützende Decke, als sie über seinen knotigen, verkrampften Rücken und das feuchte Haar seines Nackens strich.

„Es wird wieder gut, Dante“, sagte sie weich zu ihm. „Lass mich dir helfen. Du bist in Sicherheit.“

Und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, glaubte er das auch.

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